Canisiuswerk
Portraits | Zeugnisse

(K)eine zweite Chance

 

Lernt Richard Hauer jemanden kennen, hat er die Wahl: Entweder er erfindet Lügen oder er erzählt, dass er 21 Jahre in Haft war. Bei Letzterem wenden sich jedoch die meisten von ihm ab.

 

Sozialarbeiterin Lilli Pock beginnt ihren Tag mit einem Gottesdienst im Stephansdom. „Das erdet mich“, sagt sie. Danach geht sie zur Blutgasse 1. Zwei Räume mit PCs und Tischen – das ist die Beratungsstelle für Haftentlassene, die zur Kategorialen Seelsorge der Erzdiözese Wien gehört. Hier führt sie Gespräche mit Haftentlassenen, hilft bei Behördengängen, vermittelt Arbeitsplätze und Unterkünfte, etwa im Wohnheim Brigitta. „Zu uns kommen Menschen, die niemanden haben. Jede Straftat ist verabscheuungswürdig, aber der Mensch ist mehr als die Summe seiner Straftaten!“, betont sie. Mittags fährt Pock nach Wien-Brigittenau, wo die Haftentlassenen zwei Stockwerke eines Studierendenheims bewohnen. Im Gemeinschaftsraum riecht es nach kaltem Rauch und Erdäpfeln. Unter einem Holzkreuz steht eine Bank mit Tisch.

 

Dort sitzt Richard Hauer. Er lebt seit April 2023 im Wohnheim. Ins Gefängnis kam er wegen Raubüberfällen. „Ich bin oft mein Leben durchgegangen, auf der Suche nach dem Punkt, wo ich falsch abgebogen bin“, sagt er. Die Kindheit „in einer kranken Familie“ war geprägt von gnadenloser Kritik, aber auch von unbeschränkten Finanzen: „Ich habe gelernt, Geld auszugeben, für das ich nie gearbeitet habe.“ Der 64-Jährige sagt, wer von seiner Vergangenheit erfährt, wende sich ab: „Niemand will mit einem Straftäter befreundet sein“, bedauert er.

 

Abgestempelt

Neben der sozialen Isolierung sind für Haftentlassene die fehlenden Arbeitsmarktmöglichkeiten ein Problem. Laut Sozialarbeiterin Pock gibt es nur Branchen wie die Gastronomie oder die Baubranche, die kein Leumundszeugnis fordern. „Dass die meisten Institutionen keine Haftentlassenen anstellen, führt alle Resozialisierungsbemühungen ad absurdum.

 

Man kann sich bemühen, am Schluss hat man doch den Stempel“, sagt Gefängnisseelsorger Markus Fellinger. Das Gefängnis könne zwar als letzte Chance erfahren werden, vor allem bei einer Suchtproblematik, sagt der Sprecher der evangelischen Gefängnisseelsorgenden Österreichs, er erlebe aber häufiger, „dass es Menschen demoliert. Freiheitsentzug ist etwas Zerstörerisches und nur dann geeignet, wenn man dem Individuum hilft, einen Sinn zu finden.“

 

Dazu gehören Ausbildungsplätze, Psychotherapie, psychosoziale und seelsorgerliche Begleitung – und Halt nach der Haft. Nach acht Jahren Gefängnis war Herr Hauer obdachlos und wurde erneut straffällig. Weitere 13 Jahre Haft folgten. Ohne den Verein für Integrationshilfe, zu dem das Wohnheim Brigitta gehört, hätte er es nicht geschafft. Man wohne hier einige Jahre. Wenige werden rückfällig. „Ich musste einige wieder vor die Tür setzen,

weil sie Gewalt ausübten, mit Drogen dealten oder Geld stahlen“, sagt Pock.

Doch viele nützen die Chance, finden eine Wohnung und einen Arbeitsplatz. „Je schneller man auszieht, desto eher schafft man es. Manche wollen aber bleiben, wie Kinder, ewig im Hotel Mama. Bei dieser Antriebslosigkeit werde ich krawutisch!“, sagt Pock.

 

„Ratten sind das“

Ein zweiter Heimbewohner gesellt sich zur Kaffeerunde. Richard Hauer und der Mann kennen sich aus der Justizanstalt Stein. Sie sprechen über Insassen, die wegen sexueller Gewalt an Kindern verurteilt wurden: „Ratten sind das.“ Die Sozialarbeiterin widerspricht: „Was sie getan haben, ist schrecklich, aber es sind Menschen.“ „Nein, Ratten“, wiederholt der Mann. Vergebung, ob sich selbst oder anderen gegenüber, sei ein Thema, so Seelsorger Fellinger: „Sich verantwortlich zu erklären und mit sich selbst auseinanderzusetzen, ist hart.“ Im Gefängnis sei dies noch auffälliger, aufgrund der Erfahrung, verurteilt worden zu sein, und da versucht wird „eine interne Hierarchie aufrechtzuerhalten, um sich besser zu fühlen“.

 

Ein gutes Leben?

Im Gefängnis hatte Richard Hauer Zeit für Therapie und Reflexion. Er las, malte und schrieb Briefe an seine Frau, die seit Jahren in Thailand lebt. Seit 22 Jahren hat er sie nicht gesehen. Ein gutes Leben wäre für ihn, wieder mit ihr vereint zu sein. „Ich bin realistisch: Wenn ich keinen Sechser im Lotto gewinne, klappt das nicht“, sagt er. Diesen August wird Sozialarbeiterin Pock

pensioniert. Die 61-Jährige hat dies, trotz aller Herausforderungen, um ein Jahr hinausgezögert. Wie es mit der Beratungsstelle für Haftentlassene angesichts der Sparpläne der Erzdiözese Wien weitergeht, ist offen. Klar ist aber: Es braucht auch in Zukunft Menschen wie Frau Pock, die Haftentlassene mit Herzlichkeit und Hoffnung begleiten.

 

 

Von Ines Schaberger

 


 

 

CANISIUSWERK
Zentrum für geistliche Berufe

Stephansplatz 6
1010 Wien

Telefon: +43 1 516 11 1500
E-Mail: office@canisius.at
Darstellung: